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ST I, Quaestio 11 (HL)

    Das Eine und das Seiende

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XI

    Utrum Deus sit unus. – Ob Gott Einer sei?
    Editio Leonina (Q. 3-14)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Gott ist einer, es gibt keine Götter neben ihm. Das ist der Grundsatz des Monotheismus und die Grundlage des ersten Gebots der Gottesliebe. Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben, heißt nicht zuletzt, keine Götter neben ihm zu haben. Und es heißt vor allem, zu wissen, dass es keinen außer ihm gibt – der Sacra Doctrina sei Dank. Die Einheit Gottes wird von Thomas im dritten Artikel der Quaestio 11 zügig und ohne viel Aufwand begründet: sie folgt nach Thomas aus seiner Einfachheit, seiner Vollkommenheit und der Einheit der Welt(!).

    Das dritte Argument verblüfft. Es leitet sich nicht aus dem bisher Dargestellten ab und bringt einen neuen, etwas wackligen Gedanken ins Spiel: die Dinge der Welt sind auf einander bezogen, sie dienen einander und haben Ordnung (omnia enim quae sunt, inveniuntur esse ordinata ad invicem, dum quaedam quibusdam deserviunt) (ST I, q 11, 3, c). Das wäre ohne einen, übergreifenden Ordnungsstifter nicht denkbar. Gäbe es mehrere Götter, unsere Welt zerfiele in mehrere Welten. Das Argument ähnelt dem fünften Weg zum Dasein Gottes zu gelangen. Dort ging Thomas von der Weltordnung aus: wir stellen fest, dass Dinge in der Welt zweckmäßig und auf ein Ziel ausgerichtet sind. Daraus schließen wir auf ein „geistig-erkennendes Wesen“, „von dem alle Naturdinge auf ihr Ziel hingeordnet werden“ (ergo est aliquid intelligens, a quo omnes res naturales ordinantur ad finem) (ST i, q 2, 3). Wie der fünfte Weg seinen Ausgangspunkt in einer geordneten Welt nimmt, so braucht Thomas in seinem dritten Argument für die Einheit Gottes der gemeinsamen Wahrnehmung einer geordneten Welt. Es gibt keinen Gott außer Gott, weil es nur eine Welt gibt!? Sagen wir so, das Argument ist zumindest etwas verkürzt. Einige kritische Geister der Moderne dürften damit nicht unbedingt überzeugt sein.

    Größere Überzeugungskraft scheint sich aus der Vollkommenheit Gottes zu ergeben. Freilich ist die Argumentation von Thomas auch hier „speziell“. Gäbe es neben Gott noch andere Götter, müssten sie sich unterscheiden. Es müsste dem einen etwas abgehen, was dem andern zukommt. Das wiederspräche seiner Vollkommenheit. Wirklich? Ich lasse mal dahin gestellt, dass Thomas hier „nur“ logisch-begrifflich argumentiert, ein Vorgehen, das ihm bei Anselmus unangemessen schien. Könnte die Vollkommenheit des einen nicht durchaus zusammenstimmen mit der Vollkommenheit des anderen? Die vollkommene Insel braucht zur Vollkommenheit keine Eigenschaft, die dem vollkommenen Pferd zukommen muss. Vollkommene Pferde könnten also wunderbar auf vollkommenen Inseln weiden. Damit das Argument wirklich „greift“, muss es die Einheit des Seins bereits voraussetzen.

    Bleibt das Argument aus der Einfachheit. Auch hier erwartet uns unerwartetes: „Das nämlich, was ein Einzelding zu diesem bestimmten Einzelding macht, kann nicht mehreren gemeinsam sein. Zwar kann das, wodurch Sokrates Mensch ist, vielen gemeinsam sein, das aber, wodurch er dieser einmalige Mensch ist, kann nur ihm allein zukommen. Würde also ein und dasselbe Sokrates zum Menschen und zu diesem bestimmten Menschen machen, so könnte es nur einen Menschen geben, genau so wie es nur einen Sokrates geben kann.“ (Manifestum est enim quod id unde aliquid singulare est hoc aliquid, nullo modo est multis communicabile. Illud enim unde Socrates est homo, multis communicari potest: sed id unde est hic homo, non potest communicari nisi uni tantum. Si igitur Socrates per id esset homo per quod est hic homo, sicut non possunt esse plures Socrates, ita non possent esse plures homines) (ST I, q 11, 3, c)

    Das Beispiel des Sokrates ist kein Zufall. Thomas argumentiert mit aristotelischen Mitteln gegen eine platonistische Ideenlehre. Sokrates hat als Mensch „Anteil“ an der Idee des Menschen, sie kommt ihm als sein Wesen zu. Sokrates ist dieser Mensch, eine spezifische „Realisierung“ der Form, er ist materialisierte, verwirklichte Form. Er ist ein Seiendes, das nicht mit der Idee als solcher gleichgesetzt werden darf. Und Seiendes ist immer eines, nichts allgmeines: das Eine und das Seiende fallen zusammen (unum convertitur cum ente) (ST I, q 11, 1, c).

    Bei der Frage nach dem Guten an sich ist uns eine ähnliche Konvertibilität schon einmal begegnet: alles, was gut genannt werden kann, so zeigte sich, von dem kann auch gesagt werden, dass es ist und umgekehrt. Eine echte Herausforderung für uns Moderne: alles Seiende ist als Seiendes gut! Nicht weniger herausfordernd ist die Konvertibilität von „seiend“ und „einem“: „‚Das Eine‘ fügt zum Seienden keine neue sachliche Bestimmtheit hinzu, sondern bezeichnet nur das Nichtvorhandensein irgendwelcher Teilung. Denn ‚das Eine‘ besagt nichts anderes als ein ungeteiltes Seiendes (unum non addit supra ens rem aliquam, sed tantum negationem divisionis. unum enim nihil aliud significat quam ens indivisutragm) (ST I, q 11, 1, c). Alles Seiende ist eines, ungeteilt und sein eigenes, sustantielles Wesen. Immer – und nicht nur bei Seiendem, das als solches einfach und ohne Zusammensetzung ist. Wie ist das bei zusammengesetztem Seiendem zu verstehen, bei zusammengesetzten Substanzen z.B. oder Häusern und Symphonien. Wir hatten das anläßlich der Quaestio zur Unveränderlichkeit Gottes am Beispiel von Wasser bereits diskutiert. Wasser „besteht“ aus Wasser- und Sauerstoff. Solange Wasser- und Sauerstoff getrennt sind, ist kein Wasser. Sind sie zu Wasser verbunden, ist es „ungeteilt“ Wasser. Wasser ist „eines“, es „verhält“ sich als Wasser, nicht wie Wasser – und Sauerstoff. Wird Wasser in der Elektrolyse in Wasser- und Sauerstoff aufgespalten, dann ist es nicht mehr. Es ist potentiell teilbar; tatsächlich ist es eines und ungeteilt. Was für zusammengesetzte Substanzen wie Wasser gilt, gilt insbesondere auch für organische Einheiten. Lebewesen bestehen aus Organen, die zusammen ein lebendiges Ganzes, eine selbständige Einheit darstellen und sich in ihrem Sein erhalten. Ohne Organe kein Lebewesen, ohne das lebendige Ganze dieses Wesens keine Organe.

    Am Paradigma des Lebens zeigt sich die ganze Wucht der (sachlichen) Bedeutungsgleichheit von Seiendem und Einem. So wie das Lebewesen durch seine lebendige Tätigkeit im Sein ist – und sich von sich her als Eines (im Unterschied zu anderem) zeigt und erhält – so ist auch das nicht-organische Seiende zu verstehen. Es ist so wie es ist durch sein realisiertes Wesen (per suam substantiam). Es „west“, ist wirkende Kraft, actus gemäß seiner Form. Diese wirkende Einheit ist etwas anderes als die begriffliche Gleichsetzung z.B. durch Abstraktion von Unterschieden mit Blick auf ein handlungsleitendes Interesse. Natürlich können wir Dinge im Hinblick auf unterschiedliche Ziele als „geteilt“ oder „ungeteilt“ betrachten. Ein Ding hat z.B. viele akzidentelle Eigenschaften. Die Vielheit, die wir an ihm feststellen, setzt das eine substantielle Seiende freilich voraus. Und wir können andererseits viele einzelne Dinge zu einem Neuen zusammenfassen: z.B. verschiedene Früchte in einem Korb. Diese Aggregate oder Mengen setzen das ungeteilt Eine der Dinge bereits voraus und bleiben den Dingen, die sie zusammenstellen, selbst „äußerlich“. Sie sind nur für uns, nicht aber von sich her. Das Seiende müssen wir so nehmen wie es sich zeigt, wir müssen es sein-lassen.

    Endlich ist es wieder so weit: die Einheit bringt Einigung. Hier bin ich’s, hier darf ich’s sein: Aristoteliker.

    Nachtrag

    Die drei Argumente, die Gott als einen zeigen sollten, bekommen jetzt eine neue Dimension. Sokrates, dieser eine, ist durch die ihm eigene Kraft (per suam substantiam), der er ist. Er ist materialisiertes Wesen, individualisierte Natur und als dieser Eine begegnet er uns. Er ist seine Verwirklichung menschlicher Natur. Sein und Wesen sind bei Gott ungeschieden (wie sich aus der Einfachheit Gottes gezeigt hatte), so ist er in besonderer Weise Einer, er ist seine eine vollkommene „Seinsnatur“.

    Und wollen wir überhaupt von einer Welt sprechen, einer in der die Dinge einen stimmigen, nicht chaotischen Zusammenhang haben, dann „ist“ sie eine – und als geschaffene das „Produkt“ eines Schöpfers. Ins Labyrinth möglicher Welten können wir uns nur verirren, weil wir an dieser einen festen Halt haben. Ach, wie schön ist es, Aristoteliker zu sein.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium