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ST I, Quaestio 15 (HL)

    Das Wichtigste – wird geflüstert

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XV

    De ideis. – Von den Ideen.
    Editio Leonina (Q. 15-27)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch
    Platon und Aristoteles

    Platon und Aristoteles – Wikimedia

    Nur drei knappe, sehr leise Artikel widmet Thomas den Ideen. Das mag überraschen. Seit der philosophischen Adoleszenz-Phase des Aristoteles und seiner Rebellion gegen den Lehrer Platon hat die Frage, welche Bedeutung den (platonischen) Ideen im aristotelischen Realismus zukommt, die Gemüter heftig bewegt. So mancher überzeugte Aristoteliker hätte wohl gerne gesehen, dass der Heilige Aristoteliker Thomas eine plakativ programmatische Generalabrechnung mit den Ideen vornimmt – zur eigenen Bestätigung und als Referenz für die ausstehenden Kämpfe mit versponnenen Platonikern, die von Ideen einfach nicht lassen wollen. Als Aristoteliker sucht Thomas aber gerade zu verstehen, was die „Ideen-Liebhaber“ bewegt. Es sind ja nicht die schlechtesten, die von den Ideen nicht lassen wollen. Augustinus gehört dazu, Porphyrios und Boethius, Clemens von Alexandria, Eriugena und Pseudo-Dionysius Areopagita, der Heilige Anselm, Johannes von Salisbury und viele mehr – und vor allem eben Augustinus! Noch in ST I, q 6, art 4 hatte er festgestellt, dass die Ansichten über die Bestimmung des Wesens auseinander gehen und seine eigenen „Bedenken“ klar zum Ausdruck gebracht: „Plato nämlich stellte die Lehre von den Ideen auf, die ihm als selbständige, urbildliche Wesen galten, nach denen die Einzelwesen benannt werden als solche, die an den Ideen teilhaben. Nach dieser Ansicht wird z.B. Sokrates ‚Mensch‘ genannt auf Grund der Teilnahme an der in sich ruhenden, d.h. losgelöst von den Einzeldingen bestehenden Idee, die das Wesen der Menschen darstellt. Und wie er einen getrennt bestehende Idee des Menschen und des Pferdes annahm, die er den ‚Mensch an sich‘ oder das ‚Pferd an sich‘ nannte, so nahm er auch eine getrennt bestehende Idee des Seienden und des Einen an, die er das ‚Seiende an sich‘ und das ‚Eine an sich ‚ nannte. Durch die Teilnahme an diesen Ideen wurde dann jedes Einzelwesen ’seiend‘ oder ‚eines‘ genannt.“ (Plato enim posuit omnium rerum species separatas; participando, ut puta quod Socrates dicitur homo secundum ideam hominis separatam. Et sicut ponebat ideam hominis et equi separatam, quam vocabat per se hominem et per se equum, ita ponebat ideam entis et ideam unius separatam, quam decebat per se ens et per se unum; et eius participatione unumquodque dicitur ens vel unum) Thomas interpretiert die „Selbständigkeit“ der Ideen so, dass sie unabhängig von den Einzeldingen existieren. „Diese Annahme scheint nun freilich unvernünftig zu sein“ (et quamvis haec opinio irrationabilis videatur) und ist „eine Ansicht, die Aristoteles mehrfach zurückgewiesen hat.“ (et quamvis haec opinio irrationabilis videatur… ut Aristoteles multipliciter probat)

    Die Unvernünftigkeit der Ansicht gründet in der Selbständigkeit der Ideen, wie sie die Ideenlehre anzunehmen scheint. Seit Aristoteles gibt es deshalb klassische Argumente gegen die Ideenlehre, die alle verständlich und nachvollziehbar sind und tatsächlich ins Mark der Ideenlehre treffen – wenn, ja wenn es eine solche Ideenlehre gibt. Freilich ist das bis heute umstritten. Platon schreibt Dialoge, keine Lehre. Die literarische Form des Gesprächs ist dem Inhalt nicht äußerlich. Alles entwickelt sich in Gesprächen, bei denen sich wechselnde Gesprächspartner zu Fragen austauschen, die im Gesprächsanlass und den jeweiligen Interessenslagen der Beteiligten gründen. Die „Flucht in die Ideen“ ist Antwort auf eine Frage, die durch den Kontext des Gespräch fragwürdig wird. Ideen sind nicht die Antwort auf alles; sie machen etwas verständlich, was den Gesprächspartner im Gespräch unverständlich wurde. Werden sie von den konkreten Fragen isoliert und zu einer Lehre systematisiert, verlieren sie ihre Verständigungskraft und „verselbständigen“ sich ins Bodenlose. Sie sind dann ein leichtes Ziel diverser Argumente, die zum Teil Platon selbst gegen eine vom Gespräch freigesetzte Ideenlehre vorgebracht hatte. Im Dialog Parmenides läßt er Parmenides eine Reihe von Einwänden gegen den jungen „Ideenfreund“ Sokrates vorbringen, die sich dann im aristotelischen Angriffsrepertoire wiederfinden: berühmt das Argument von „dritten Menschen“, das gegen die Selbständigkeit der Ideen vorgebracht wird. Ist Sokrates ein Mensch, weil er an der Idee des „Menschen an sich“ teilhat, die eine eigene Existenz „jenseits“ von Sokrates hat, dann muss dies durch die Vorstellung eines „dritten Menschen“ vermittelt werden, die die Anwendung der einen auf den anderen sicherstellt. Und so ad infinitum. Aristoteles hat das „platonische“ Argument im ersten, siebten und zwölften Buch seiner Metaphysik antiplatonistisch wiederholt.

    Aristoteles stimmt Platon auch bei, dass Ideen nicht von der selben Seinsart sind wie die Dinge, die durch sie bestimmt werden. Man mag die Idee des Schönen schön und die des Guten gut finden, die Idee des Grünen jedenfalls ist selbst nicht grün und sie ist anders als die grünen Dinge sind. Von eifrigen Aristotelikern wird deshalb immer wiederholt, dass Ideen das Resulat einer Abstraktion sind, die ihren Ausgangspunkt bei konkreten sinnlichen Dingen nimmt: „nothing abstract exists without abstraction“ (David Oderberg, Real Essentialism, 2007, p 83). Man ist geneigt zu sagen: „Sach bloß!? Wenn das Platon gewußt hätte, wär uns einiges erspart geblieben!“.

    In vielerlei Hinsicht ist auch die visuelle Metaphorik von eidos/idea/forma irreführend. Descartes gibt fast zweitausend Jahre später mit dem Chiliagon, dem Tausendeck, ein schönes Beispiel für diese unglückliche Metaphorik (6. Meditatio). Wenn wir von der Idee des Chiliagons reden, stellen wir uns dann wirklich eine „Form“ vor und zwar eine andere als die des Neunhundertachtundneuzigecks oder die des Tausendelfecks? Wie stellen wir uns das „Grüne“ vor – „sehen“ wir im Geiste einen Rasen oder einen Frosch, und wenn ja, einen lang- oder einen kurzbeinigen? Ideen sind keine Vorstellungsinhalte, sondern Teil unserer sprachlichen Verständigung. Im platonischen Dialog ist die Metaphorik gebunden und jederzeit verständlich. Sie lebt in und aus dem Bemühen der Gesprächspartner, sich über etwas zu verständigen, was ihnen tatsächlich unklar ist. Genau das macht Parmenides im gleichnamigen Dialog seinem jungen Gesprächspartner Sokrates deutlich, der die Ideen so cool findet, dass er sie zu einem Organon für alles machen möchte und dabei echte Fragen von vornherein theoretisch beschneidet, und ihre Fragwürdigkeit in einer allgemeinen Methodik verliert. „Siehst Du also nun, Sokrates, habe Parmenides gesagt, wie groß die Schwierigkeit ist, wenn jemand die Begriffe als an und für sich seiend erklärt“ (Parm, 133a)

    Wie im Himmel, so auf Erden

    Platons Höhle – WikimediaHöhlengleichnis

    Was für Platon der Dialog, das ist Thomas das Gespräch mit der Tradition. Thomas wählt die Form eines standardisierten Dialogs, in dem jede Quaestio sich nur mit Einwänden zu Einwänden beantworten läßt. Eine echte Antwort gibt es nur auf eine echte Frage, die sich als solche im Ringen der Autoritäten und konkurrierenden Plausibilitäten zeigt. Am Ende steht eine Anwort, die nicht alles, sondern genau das beantwortet, was wirklich fraglich ist.

    In allen drei Artikeln der Ideen-Quaestio ruft er Augustinus auf, der die Erkenntnis über Gott und die Welt an Ideen bindet. „Eine solche Kraft ist in den Ideen begründet, dass niemand ohne deren Einsicht weise sein kann.“ (tanta vis in ideis constituitur, ut, nisi his intellectis, sapiens esse nomo possit) (ST I, q 15, art. 1 contra) Und: „Ideen sind die Wesensbilder, die im Geiste Gottes wesen…“ (ideae sunt rationes in mente divina existentes…) Das „wissen“ wir von Augustinus (ut per Augustinum patet)(ST I, q 15, 3, contra) Ehrlich, was will man da noch sagen? Richtig: „Es ist notwendig, im göttlichen Geist Ideen anzunehmen.“ (necesse ist ponere in mente divina ideas“) Wohlgemerkt, dass steht nicht bei Platon (oder Augustinus oder mir), es ist ST I, q 15, art 1 c.

    Tatsächlich ergibt sich das aus dem, was Thomas bisher in den Quaestiones gezeigt hat. Das Wesen der Dinge, das, was sie zu dem macht, was sie sind, ist die Form. Wir erkennen die Wesensform aus den Dingen. Sie sind so, wie sie sind, freilich nicht, weil wir sie so erkennen. Sie sind, was sie sind, gemäß der durch Gott wirkenden Formen. Sein „Erkennen“ ist Schöpfen. Die Ideen sind „Gedanken“ Gottes, in ihm vereinte Vollkommenheiten, und Grund der Schöpfung. Die Ideen, mit deren Hilfe wir erkennen, was ist, haben für uns eine andere Realität als die Dinge, die durch sie geformt sind. Sie sind freilch keine jenseitige Wirklichkeit, die der Wirklichkeit der Dinge entgegengestellt ist. Es gibt kein eigenes Reich der Ideen, das von der „wirklichen“, sinnlichen Welt völlig getrennt existierte. Ideen gibt es nicht im selben Sinne wie es Dinge gibt. Sie sind das, was die Dinge formt und zu dem macht, was sie sind. Sie machen uns das Fragwürdige verständlich und lassen uns erkennen, was ist. Das zeigen uns die platonischen Dialoge und leiten uns zu dem Gespräch an, das wir denken nennen, nämlich dem Gespräch der Seele mit sich selbst und das aus dem Gespräch lebt, das wir (in der Sprache) sind.

    Der mundus intelligibilis ist keine selbständige, jenseitige Welt neben oder über unserer diesseitigen Welt der Dinge. Die Ideen werden in der Schöpfung „verdinglicht“. Es gibt sie nicht jenseits der Schöpfung, sie sind die Prinzipien, die das, was ist, zu dem werden lassen, was es ist. Das Sein ist intelligibel, verstehbar: Wie im Himmel, so auf Erden. Der mundus intelligibilis ist wirklich die eine Welt, die intelligibel begriffen wird. Der mundus intelligibilis ist die Welt, die verstanden ist, eine Welt der Ideen.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium