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ST I, Quaestio 18 (HL)

    Ist Gott durstig – wie wir alle?

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XVIII

    De vita Dei. – Über das Leben Gottes.
    Editio Leonina (Q. 15-27)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Gottes Dasein unterscheidet sich vom Sein des Seienden. Însbesondere ist Gott kein Körper, hat keine Wesenbestandteile und ist nicht in Bewegung. Er ist das Sein selbst. Dürfen wir ihn dann lebendig nennen wie wir das alt- und neutestamentarisch tun? Nach Aristoteles, dem Thomas auch hierin folgt, nennen wir natürliche Körper lebendig. In De Anima unterscheidet Aristoteles zwischen natürlichen Körpern, die Leben haben, und solchen, die es nicht haben (II, 1). Gott aber ist kein natürlicher Körper. Wie könnte er denn lebendig sein?

    Selbstbewegung…

    Dem Lebendigen ist es zudem eigen, bewegt zu sein. Leben ist Bewegung, eine Bewegung, die vom Bewegten selbst ausgeht. Für Thomas ist es vor allem die Selbstbewegung, die das Lebendige charakterisiert. Das wird am Tier offensichtlich. „Zuerst nämlich sagen wir von einem Tier, es lebt, wenn es beginnt, sich selbst zu bewegen, und so lange erachtet man ein Tier als lebendig, solange bei ihm eine solche Bewegung sichtbar ist; wenn es aber keine Selbstbewegung mehr hat, sondern nur noch von einem anderen bewegt wird, nennt man das Tier tot, weil das Leben fehlt.“ (Primo autem dicimus animal vivere, quando incipit ex se motum habere; et tamdiu judicatur animal vivere, quamdiu talis motus in eo apparet; quando vero iam ex se non habet aliquem motum, sed movetur tantum ab alio, tunc dicitur animal mortuum per defectum vitae) (ST I, q 18, art 1 c) Was wir mit lebendig meinen, verstehen wir am besten durch das, was wir fraglos lebendig nennen (manifeste convenit), nämlich das Tier. Ist Gott also animalisch wie wir alle, nur eben etwas ganz besonders Animalisches, ein animal meta-physica?

    Gott freilich ist nicht bewegt, er ist der „unbewegte Beweger“, das „erste Bewegende, das von keinem bewegt wird“ (primum movens, quod a nullo movetur)(ST I, q 2, art. 3c). Und er ist schlechthin einfach (summe simplex) (ST I, q 3). Lebendiges dagegen ist als Organismus etwas Komplexes, eine Einheit von Teilen. Es ist etwas, das sich als ein Ganzes ver- und erhält, sich in seiner Selbstbewegung gegen anderes abgrenzt, sich in seinem Stoffwechsel ernährt und reproduziert, wächst und gedeiht oder schwächt und vergeht. Etwas, das wir Gott, der „in keiner Weise zusammengesetzt, sondern schlechthin einfach ist“, nicht zuschreiben können (nullo modo compositus est, sed omnino simplex) (ST I, q 3, art 7 c).

    All diesen Überlegungen entgegnet Thomas sehr bestimmt: „Das Leben ist im höchsten Maße Gott eigen.“ (vita maxime proprie in Deo est)(ST I, q 18, 3 c) Leben hat demnach Grade und wir müssen wieder (analog) um die Ecke denken. Das, was ihm im „höchsten Maße“ (maxime) eigen ist, kommt uns und den lebendigen Geschöpfen analogice zu. Wir verstehen Leben aus der Begegnung mit dem Lebendigen, das sich für uns zunächst und zumeist als lebendig zeigt, das animalische Leben. Wir erkennen aus seinen Wirkungen. Und es zeigt sich uns so, dass wir in ihm ein besonderes Seiendes erkennen, das sich von anderem Seienden fundamental unterscheidet, nämlich in seiner Art zu sein.

    …als Selbstverwirklichung

    Das Lebendige zeigt sich. Es ist etwas, das sich für sich gegen anderes abgrenzt, ver- und erhält. Es ist als Lebendiges gar nicht zu verstehen ohne dieses Selbstverhältnis. Das Lebendige ist für sich selbst etwas und nicht nur für uns als Betrachter. Lebendiges ist für uns nur, wenn wir es als etwas verstehen, das für sich etwas ist, ohne dass es (von uns) dazu gemacht würde. Wir verstehen es als etwas, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Das lebendige Ganze eines Organismus unterscheidet sich darin von den Teilen eines Apparates oder den Elementen einer Stoffsammlung. Ein Auto ist eine Materialansammlung, die für uns, die wir sie herstellen und benutzen, ein Ganzes ist, bei dem bestimmte Teile nicht fehlen dürfen, um noch ein funktionsfähiges Auto zu sein. Autos freilich streben nicht danach, sich zu erhalten. Sie fahren nur mit Benzin. Sie haben aber keinen Durst nach Benzin. Sie sind für sich selbst nichts, weil sie kein selbständiges Ganzes sind und kein Selbst haben. Ein Hund freilich ist etwas, das gar nicht verstanden werden kann, wenn es nicht als ein Ganzes verstanden wird, dem es in seinem Sein um etwas geht, nämlich sein Sein. Das Auto ist allenfalls für uns in einem guten oder schlechten Zustand. Dem Hund kann es gut oder schlecht gehen. Er hat Hunger und Durst und sein dadurch geprägtes Verhalten zielt auf Selbsterhaltung und -verwirklichung. Wir erkennen es in seinem Verhalten als etwas, das für sich selbst wirklich ist und sich in seinem Verhalten verwirklicht.

    Stufen des Lebendigen

    Als Selbstbewegung der Selbsterhaltung und -verwirklichung kennt das Lebendige Stufen: „Da man Leben von den Wesen aussagt, sofern sie aus sich selbst tätig sind und nicht sofern sie gleichsam von anderen bewegt sind, deshalb findet sich, je vollkommener dies einem Wesen zukommt, um so vollkommener in ihm das Leben.“ (cum vivere dicantur aliqua secundum quod operantur a seipsis, et non quasi ab aliis mota; quanto hoc perfectius competit alicui, tanto perfectius in eo invenitur vita.)(ST I, q 18, art. 3 c) Pflanzen werden von Tieren und Tiere von Menschen unterschieden. Das Wachstum der Pflanzen ist eine Selbstbewegung, die auf wenigen Hell-Dunkel-Reizen basiert und sich von der örtlichen Bewegung von Tieren unterscheidet, die sich ihre Umwelt aktiv erschließen und das Ihre mit ihren Sinnen suchen und finden. Sie nehmen das Gesuchte als Gesuchtes wahr, erkennen das Gesuchte allerdings nicht als Ziel, das sie schlußfolgernd in Ziel-Mittel-Ketten abbilden und zu dem sie sich in vernünftiger Abwägung verhalten könnten.

    Die Stufen des Lebendigen sind freilich idealtypisch. Es finden sich so viele Zwischenstufen, dass wir von einen stufenlosen Übergang ausgehen dürfen. Thomas bringt das Beispiel der Auster, die mittels Tastsinn auf wenige Reize von außen durch Erweiterung oder Zusammenziehung reagiert und die ihm als eine Form des Lebendigen gilt, die zwischen Pflanze und Tier angesiedelt ist. Auch zwischen dem „intelligenten“ Verhalten des Hundes, der Kooperation von Delphinen und Walen oder dem Werkzeuggebrauch von Primaten ist der Übergang wohl fließender als wir das noch vor Jahrzehnten angenommen hätten. Das tut dem Argument gar keinen Abbruch. Im Gegenteil zeigt es, dass die höheren, ausgeprägteren Stufen des Lebens aufs innigste mit den niedrigen verbunden sind. Der Mensch ist kein reines Vernunftwesen. Er hat einen Leib, der vegetative Lebensäußerungen so gut kennt wie Reflexe und triebhafte Strebungen. Wir wissen, was Hunger ist, weil wir ihn haben. Und so verstehen wir das Streben von Pflanzen und Tieren, weil wir bewußt und reflexiv erfahren, was wir mit anderen Formen des Lebendigen teilen.

    Bewußtsein und Reflexion sind dem Lebendigen gar nichts Fremdes, sie entsprechen vielmehr seinem konstitutiven Selbstverhältnis. Lebendiges verhält sich zu sich und zum anderen seiner selbst mehr oder weniger bewußt. Das andere seiner selbst wird ihm zur Umwelt. Von sich her, zentriert um das eigene Selbst, nimmt es das andere wahr. Das Lebendige reagiert auf ihm spezifische Reize. Lebensäußerungen sind nicht Wirkungen einer äußeren Ursache. Sie sind selbsterhaltende und -verwirklichende Aneignung einer Umwelt. Der Haferbrei, der dem ausgehungerten Hund einen wütenden Kampf mit dem Konkurrenten wert ist, wird von ihm bei anderer Gelegenheit keines Blickes gewürdigt. Das Selbstverhältnis des Lebendigen entscheidet über die Reaktion auf das ihm Begegnende. Das Lebendige kennt nicht einfach Ursache und Wirkung, es erlebt und erleidet die Welt.

    Erkenntnis ist selbst eine Form der Aneignung der Welt durch das Lebendige. Den Mensch zeichnet als vernünftiges Lebewesen dabei seine Exzentrizität aus: insofern er das Lebendige als Lebendiges erkennt, kann er die Zentriertsein des Lebendigen auf eine gemeinsame Welt überschreiten. Vernünftig begegnen wir Wesen, die sind, was auch wir sind: selbständige Wesen, denen es in ihrem Sein um dieses Sein geht.

    Sein, Leben, Bewusstsein

    Lebendiges zeichnet sich dabei nicht durch bestimmte Eigenschaften, sondern durch sein Sein vor anderem Seienden aus. „Den lebendigen Dingen ist Leben Sein.“ (vivere viventibus est esse)(ST I, q. 18, art. 2 contra nach Aristoteles, De Anima II, 4) Das Leben ist ihr Wesen. Es „gibt“ nicht Seiendes, das lebendig oder nicht lebendig sein könnte und dessen Sein von dem Zukommen dieser Eigenschaft unverändert wäre. Das Sein des Lebendigen ist Leben. Wer von Lebendigem spricht, der spricht nicht von bestimmten Eigenschaften eines Seienden, sondern vom Wesen einer Substanz, der es zukommt, in bestimmter Weise zu sein. „Der Name Leben wird von einer äußeren Erscheinung eines Dinges genommen, nämlich vom Sich-Selbst-Bewegen. Dennoch hat man diesen Namen nicht eingeführt, um dies zu bezeichnen, sondern um das selbständig Seiende zu bezeichnen, dem es seiner Natur nach zukommt, sich selbst zu bewegen oder sich auf irgendeine Weise zur Tätigkeit anzutreiben. Demnach heißt ‚leben‘ nichts anderes als das Sein einer solchen Natur…“ (nam hoc nomen sumitur ex quodam exterius aparenti circa rem, quod est movere seipsum: non tamen est impositum hoc nomen ad hoc significandum, sed ad significandam substantiam, cui convenit secundum suam naturam movere seipsam, vel agere se quocumque modo ad operationem. Et secundum hoc vivere nihil aliud es quam esse in tali natura) (ST I, q 18, art. 2 c) Lebendiges ist in einem ausgezeichneten Sinne selbständig. Es ist das, was es ist, nicht für anderes, z.B. für einen Betrachter, sondern für sich selbst. Es wird nicht einer Substanz zugesprochen oder von ihr ausgesagt. Es ist Substanz.

    Das, was wir mit Substanz meinen, verstehen wir vom Lebendigen. Gleiches gilt vom Sein. Sein, das verstanden wird, zeigt sich als Leben. Und die höchste Form des Lebens ist Erkenntnis. Als lebendiger Gott ist sein Dasein Leben. Und „das Leben Gottes ist sein Erkennen.“ (vivere Dei est intelligere eius) (ST I, q 18, art. 4 c) Und sein Erkennen ist – wie wir ST I, q 14, art. 2 wissen – Selbsterkenntnis.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium