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ST I, Quaestio 19 (HL)

    Wie im Himmel …

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XIX

    De voluntate divina. – Über den göttlichen Willen.
    Editio Leonina (Q. 15-27)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Die Frage nach dem „Willen Gottes“ ist von weitreichender theologischer Bedeutung. Es sind die alten und immer wieder neu gestellten Fragen nach Rechtfertigung und Theodizee, die sich um Gottes Willen aufdrängen: Wenn die Welt durch den (freien) Willen Gottes bestimmt ist, dann ist er für das Geschaffene verantwortlich – auch, und vor allem für das Leid, das wir in „seiner“ Welt erleben. Verantworten muss man sich für etwas, dem Zustimmung versagt bleibt. Gelobt sei er also für Vollkommenheit und Schönheit dieser Welt. Fürs Unverständliche in ihr suchen wir seine Antwort und seine Verantwortung. Und wir suchen diese Antwort, weil wir sie für unser verantwortliches Handeln selbst brauchen. Sein Wille bestimmt unsere Freiheit und begrenzt sie. Unsere Schuld ist immer auch irgendwie seine, ganz nach dem Grad und der Stärke, in dem sein Wille unseren bestimmt. Und wie weit unsere Schuld „am Ende“ uns zugerechnet und zum Maßstab der verheißenen Erlösung wird, obliegt ebenfalls irgendwie seinem Willen.

    Fiat voluntas tua!

    Die Frage, ob wir von einem Willen Gottes sprechen können, ist für Christen im voraus entschieden. Im Gebet des Herrn beglaubigen wir seinen Willen und beschwören seine Wirkung: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ (Fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra). Thomas freilich stellt im ersten Artikel die Frage, ob „es in Gott einen Willen“ gibt (utrum in Deo sit voluntas)(ST I, q 19, 1) Was wir glauben, wollen wir vernünftig glauben und verstehen, was wir im Glauben meinen. Die Rede vom Willen Gottes, die uns im Glauben fraglos vertraut ist, scheint sich einer vernünftigen Verständigung zu entziehen. Gewichtige Einwände stellen sich unserem Verständnis entgegen.

    Ein Wille hat ein Objekt, er zielt auf ein Gut und hat einen Zweck. Gott können wir aber kein Ziel und keinen Zweck zuschreiben. Wer etwas will, will etwas, das er noch nicht hat und wir würden Gott mit dem Willen eine Unvollkommenheit zusprechen, die ihm nicht zukommen kann. Und der Wille setzt als eine Form von Begehren und Streben in Bewegung. Der Wollende wird durch das Gut bewegt, auf das er aus ist. Gott aber bewegt und wird selbst nicht durch anderes bewegt.

    Unser Verständnis von „Gott“ und „Willen“ scheint nicht harmonisch zusammenzustimmen. Zum selben Ergebnis freilich kommen wir, wenn wir Gott ohne Willen zu denken versuchen. Gott hat sich uns als der Schöpfer gezeigt, dessen Erkenntnis die Dinge schafft (ST I, q 14). In unserem Erkennen wird die Differenz zwischen der (Wesens-)Form der Gegenstände und ihrer tatsächlichen Existenz nachvollziehend geschlossen. Wir erkennen etwas wirklich als etwas, wenn wir den Gedanken nachvollziehen, den Gott in der schöpfenden Erkenntnis hatte und damit den Gegenstand ins Sein rief. Erkennen und Willen sind für uns, aber nicht bei ihm unterschieden. Das Wollen folgt dem Erkennen, nicht zeitlich, sondern begrifflich und „wesenslogisch“ oder der „philosophischen Grammatik“ entsprechend.

    Der Wille folgt dem Verstand

    Thomas kontert deshalb vorbehaltlos im ersten Satz seiner Antwort auf die vorgebrachten Einwände: „In Gott gibt es einen Willen, wie es in ihm auch einen Verstand gibt. Denn der Wille folgt dem Verstand.“ (in Deo voluntatem esse sicut et in eo est intellectus: voluntas enim intellectum consequitur)(ST I, q 19, art 1 c) Die Formidee des Gegenstandes beschreibt seine Vollkommenheit, die sein Wesen ausmacht und die er zu erfüllen sucht. Unbeseelte Gegenstände „streben“ in ihrem gleichsam naturgesetzlichen Sein nach ihrer Erfüllung. Sie zeigen sich als das, was sie sind, in ihrem natur(gesetz)lichen Verhalten. Beseelte Wesen eignet ein lebendiges, ihrer Natur entsprechendes Streben nach ihrem Vollkommensein. Sie streben nach ihrem Gut und wollen sich in ihm erhalten, wenn sie es denn verwirklicht haben. „Wenn es nämlich das Gut besitzt, ruht es in ihm; wenn nicht strebt es danach. Beides kommt dem Willen zu.“ (ut scilicet, cum habet ipsum quiescat in illo; cum vero non habet, quaerat ipsum. Et utrumque pertinet ad voluntatem.)

    Damit sind zugleich die Einwände entkräftet, die gegen einen Willen Gottes zu sprechen schienen. Den Willen charakterisiert nicht nur ein bedürftiges Begehren zum eigenen Gut. Ihm ist auch die bejahende Zustimmung der Verwirklichung seiner Natur eigen: wer sein Gut als seine Vollkommenheit will, der will in seiner verwirklichten Natur sein. Bewegt wird Gott nicht durch ein anderes Gut, sondern durch sich selbst und es ist nur die „intellektuelle“ Bewegung der ruhigen Bejahung. In diesem Sinne ist Gott nicht nur „irgendwie“ Willen zuzusprechen; er hat ihn in einem vollkommenen, uns schon mehrfach begegneten Sinn – unendlich vollkommen und ohne jede Unvollkommenheit (per modum exellentiae et remotionis).

    Thomas bringt die Überlegungen auf den Punkt: „Demnach muss es in Gott einen Willen geben, da es in ihm einen Verstand gibt. Und so wie sein Erkennen sein Sein ist, so auch sein Wollen.“ (Et sic in Deo oportet est voluntatem, cum sit intellectus. Et sicut suum intellegere es suum esse, ita et suum velle) Das ist folgenreich und kaum zu überschätzen. Der Wille „folgt“ dem Intellekt – nicht umgekehrt. Man ist geneigt zu sagen: na klar, wie sollte auch anders. „Unsere“ Moderne ist freilich völlig anders ausgerichtet und diese Ausrichtung folgt durchaus einem in der christlichen Tradition verwurzelten Voluntarismus. Was ist, ist. Was aber soll sein?! Der Wille Gottes und seines Ebenbilds, das Gute und das willentliche Sollen prägen die Natur und alle unwillentliche Natur ist bloße Natur, die sich früher oder später dem entschiedenen Willen fügen muss. Und auch Platon, so sagt man und wohl nicht ganz zu Unrecht, galt die Idee des Guten als die höchste und sie stand ihm vor und über allem Sein. Hier bei Thomas dagegen regiert die Natur den Willen und das Handeln folgt dem Sein (agere sequitur esse). Die Praxis hat ihr Ziel in der reinen Theorie. Die Kunst des Machens beugt sich der Kunst der rechten Schau: wie im Himmel so auf Erden. Wir schauen nicht in einen undurchdringlichen Zufallsnebel; es ist wie es ist, weil Gott es so wollte. Alles was ist, ist dem Verstehen geöffnet. Mit der „Erklärung“ über Gottes Willen ist die Lesbarkeit der Welt gesichert, anders können wir es philosophisch nicht verstehen.

    Ich erkenne an

    Theologisch bedeutsamer ist freilich ein anderer Umstand. „Dein Wille geschehe“, so sagen wir, freilich nicht, um seine Kraft von unserer Einstimmung und damit von unserem Willen abhängig zu machen. Oder doch? Wir können unsere Zustimmung in zweierlei Hinsicht verstehen: der Wille Gottes möge geschehen, weil und insofern er gut ist oder wir heißen ihn gut, weil und insofern es Gottes Willen ist. Seit uns Platons Euthyphron mit dieser Frage vermeintlich ratlos zurückgelassen hat, wird die erste Option von den Philosophen, die zweite von den Theologen präferiert. Beide Optionen setzen freilich die Zustimmung zum „Geschehen“ voraus, die einen weil es vernünftig und deshalb Gottes Willen ist, die anderen weil es durch Gottes Willen bestimmt und damit gut ist. Was, wenn uns das „Geschehen“ ungerecht, böswillig und absurd erschiene? Der Glauben hielte dem Vorbild Hiobs folgend an Gottes Willen immer noch zustimmend fest, auch wenn ihm die vernünftigen Gründe dafür ausgingen. Er sähe darin gerade seine Auszeichnung und alle Vernunft überragende Freiheit. Die Vernunft würde daran festhalten, dass die behauptete Absurdität ein sicheres Indiz für ihre unhintergehbare Orientierungskraft sei. Absurdität ist immer ein privatives Phänomen und die Ausnahme, die die Kraft vernünftiger Normalität bestätigt. Der Glaube könnte sich dem Willen Gottes gar nicht zustimmend unterstellen, wenn er nicht vernünftig verstanden hätte, was er zu tun vorgibt. Ein vernunftloser Glauben stünde immer in der Gefahr, sich dem Absurden, der Ungerechtigkeit und Bosheit zu früh zu ergeben und damit den Willen Gottes, dem man zu folgen glaubt, in Wirklichkeit zu verfehlen. Thomas Quaestio zum Willen Gottes zeichnet die Selbstverständigung eindrucksvoll nach: dem Ausdruck des Glaubens wird vernünftiger Sinn gesichert, der Begriff des Willens an den Einwänden geschärft und zu einem stimmigen Verständnis gebracht.

    Unser Wille zielt darauf, seinen zu wollen. Unsere Zustimmung ist Anerkennung und Anteilnahme an der Wahrheit. Das bedeutet, dass wir seinen Willen ernst nehmen und uns an ihm reiben. Ist sein Wille Gesetz, dem wir uns nicht zu entziehen vermögen? Oder gibt es Schlupflöcher, Interpretations- und Handlungspielräume, die wir eigensinnig nach unserem Willen nutzen können. Und wie auch immer sein Wille unser Leben bestimmt, können wir nicht auch seinen Willen bestimmen und uns die Willentlichkeit des Daseins zu Nutze machen, ganz dem selbstbewußten Programm einer vernünftigen Selbstaufklärung folgend. Bewußtlose Naturgesetze lassen sich nicht ändern, nur hinnehmen und „benutzen“. Was vom Willen abhängt, das ist einer vernünftig motivierten Änderung zugänglich. Es ist nicht einfach so wie es ist, sondern es soll so sein, weil es einer so will. Diesen Willen kann man beeinflussen und ändern, er ist vernünftigen Gründen und einem em- und sympathischen Zuspruch zugänglich. Das setzt freilich die Kenntnis seines Willens voraus. Die Kenntnis seines Willens zeigt auch, dass er unveränderlich ist.(ST I, a 19, art 7) Wir verstehen ihn, wenn wir verstehen, dass es keine Gründe gibt, ihn zu ändern. Kenntnis und anerkennende Zustimmung seines Willens ist uns freilich nur möglich, wenn wir seine Gründe in unserem Versuch, das (vermeintliche) Starke schwach und das (leidende) Schwache stark zu machen, als die besseren erkennen und im aufmerksamen Ringen Augen, Ohr und Herz geöffnet wird.

    Großer Preis – ohne Gewähr

    Was, wenn uns Herz und Verstand verschlossen bleiben? Ist das unsere Schuld oder nicht vielmehr seine? Das ist für unsere Rechtfertigung und Erlösung eine drängende Frage! Aber erwarten wir wirklich, dass er sagen würde: „Ach ja, das war ja mein Fehler, da kannst Du gar nichts für“? Vielmehr ist zu erwarten, dass die Schuldfrage gegenüber seinem Willen bedeutungslos und er sich in seinem Urteil nicht wirklich von unserer Unschuldsvermutung beeinflussen ließe. Die Meinungen gehen hier bekanntlich weit auseinander. Ist für die einen unsere Erlösung von Anbeginn der Zeit durch den Willen Gottes entschieden und durch die von ihm gewährte Gnade des Glaubens vorbestimmt, so sehen die anderen unsere, durch freien Willen hervorgebrachten Werke als einen mitentscheidenden Grund für unsere Hoffnung.

    In Artikel 6 verhandelt Thomas diese Frage gleichsam beiläufig: „Wird der Wille Gottes immer erfüllt“ (utrum voluntas Dei semper impleatur)(ST I, q 19, art 6). Unser Verhalten wäre dann entweder durch ihn vorbestimmt oder für unsere Vorherbestimmung ohne Bedeutung. Wir dürfen von Thomas im Rahmen der Erörterung des Willens Gottes keine abschließende Antwort erwarten. Es wird ihn und uns noch die nächsten 522 Quaestiones beschäftigen. Er legt freilich den Grund und führt gerade hier vor, wie wir uns solchen Fragen nähern können und sollten.

    „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden“, heißt es bei Paulus in 1. Tim 2, 4. Wenn sich immer erfüllt, was Gott will, und davon müssen wir doch ausgehen – necesse est semper voluntatem Dei impleri (ST I, q 19, art 6 c) – dann wäre unsere Rettung beschlossene Sache und jede Sorge unbegründet. Natürlich unter der Voraussetzung, dass Paulus recht hat bzw wir ihn recht verstanden haben! Nun gibt es freilich drei weitere Möglichkeiten, Paulus Allveröhnungsverheißung zu verstehen:

    • Sein Wille bezieht sich gar nicht auf alle Menschen und meint nicht unbedingt, dass es keinen Menschen gebe, der nicht gerettet würde. „Gott will, dass all jene Menschen gerettet werden, die auch gerettet werden.“ (Deus vult salvos fieri omnes homines qui salvantur)(ST I, q 19, art. 6, ad 1) Es gibt danach keinen, von dem er will, dass er gerettet werde und es nicht wird – wie sehr man sich auch bemühen mag.
    • „Alle Menschen“ bezieht sich gar nicht auf die einzelnen Menschen, sondern auf Gruppen, Stände, Typen von Menschen. Frauen, Kinder und Kranke, Politiker, Banker oder Soldaten sind nicht per se ausgeschlossen. „Gott will, dass von jedem Stand der Menschen einige gerettet werden…“ (Deus vult de quolibet statu hominem salvos fieri…) (ST I, q 19, art. 6 ad 1) Alle Politiker wären aber echt zu viel!
    • Der („vorausgehende“) Wille zur Rettung aller Menschen kann mit einem anderen (nachfolgenden) Willen konfligieren und der Rettung eine andere Form geben: „So ist, schlechthin betrachtet, dass der Mensch lebt, ein Gut; dass er getötet wird ein Übel“ (Sicut hominem vivere est bonum, et hominem occidi malum)(ST I, q 19, art 6 ad 1) Jeder Richter will deshalb per se (vorausgehend), dass Menschen leben. Ist der Mensch aber ein Mörder und eine Gefahr für die Menschheit, dann kann will das Gericht seine Verurteilung – gegebenfalls zum Tode. Die Rettung ist in diesem Falle seine Bestrafung!

    Die drei Versuche, Paulus zu verstehen, geben keine endgültige Antwort. Sie zeigen freilich, wie wir unsere Glaubenserfahrung mit unserem vernüftigen Sprechen und Handeln verbinden und stärken. Wir haben keinen Beweis für die Apokatastasis oder eine endgültige Entkräftung der Allversöhnung. Für die große Hoffnung gibt es keine Vernunft-Gewähr. Wir wissen nur besser, was wir meinen, wenn wir sagen: „Dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden“. Und können jetzt daran glauben.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium