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ST I, Quaestio 20 (HL)

    Love, Love, Love – natürlich im Plural

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XX

    De amore Dei. – Über die Liebe Gottes.
    Editio Leonina (Q. 15-27)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Die Sache scheint mal wieder ganz einfach. Für die Liebe Gottes braucht Thomas grade mal 4 Artikel und klärt darin auch gleich noch, warum Gott die Besseren mehr liebt und was das bedeutet. „Gott ist die Liebe“ zitiert Thomas den ersten Johannesbrief (1 Joh 4, 16) und läßt in seiner Darstellung keinen Zweifel aufkommen, dass dies „notwendig angenommen werden muss“ (necesse est ponere amorem in Deo)(ST I, q 20, 1 c) Die drei schwächlichen und lustlos formulierten Einwände sind auch schnell entkräftet. Dass er sich hierfür so wenig Raum gibt (und geben kann), ist einem Umstand zu schulden, der an einigen Punkten bereits aufgeblitzt war und wenn man so will ein Konstruktionsproblem der Summa darstellt. Ich will dem in ein paar Überlegungen nachgehen.

    Die Sache mit der Liebe ist nämlich so einfach nicht. Wir reden von der elterlichen Liebe, die wir freilich entschieden (und sogar strafrechtlich) von der erotischen, körperlichen Liebe unterscheiden. Während wir einen Menschen lieben können ohne dass er uns freund ist, ist die Zuneigung von Freunden immer wechselseitig. Was der partnerschaftlichen Liebe gelingt – und idealer Weise auch der elterlichen – nämlich die Wechselseitigkeit, das ist für die Liebe zu Kunst und Musik, kurz zu den schönen Dingen des Lebens, freilich ausgeschlossen: die Liebe zu Pferden und Hunden mag vielleicht durch diesen Thunderbird und jenen Bello erwidert werden, den schönen Dingen sind und bleiben wir auf immer gleichgültig so sehr wir uns um sie bemühen. Nur der Selbstliebe scheinen wir uns sicher sein zu können. Aber selbst die mißrät gar nicht so selten zum krankhaften Narzismus oder zerstörerischem Selbsthaß.

    Philia, Eros und Agape

    Sich auf die Liebe verstehen ist alles andere als selbstverständlich, begrifflich nicht und im Leben schon gar nicht. Wie im Leben so in der Philosophie. Platons kleiner Dialog über Freundschaft und Liebe (philia) endet in verwirrender Aporie. Einer seiner großen Dialoge, das Symposion, bringt zwar Ordnung und Licht in die Liebe, freilich nur im Durchgang durch die vielfältigen Bedeutungen, in denen wir über die Liebe sprechen. Anders als im Lysis wird hier eine „zweite“ Liebe, der Eros, behandelt. Zunächst als Gott gepriesen, sieht Pausanias, einer der Gesprächspartner, zwei Ausprägungen: Nicht nur einen Eros gäbe es und eine Aphrodite, sondern zwei, einen himmlischen und einen gemeinen. Die Liebe an sich sei weder gut noch schlecht; es käme vielmehr auf die Ausübung an und es läge am Vermögen der Liebenden, welche Form der Liebe sie Raum und Macht gewährten. Anders als Agathon, der, nomen est omen, den schönen Eros rühmt, der als Grund des Schönen sich im Genuss des Schönen ergeht, zeigt Sokrates ihn als Mangelwesen, das das Schöne nicht hat und es vielmehr begehrt. Eros ist ein Zwischenwesen, weder gut und schön, noch schlecht und hässlich. Seine Herkunft bezeugt dies: ein Kind von Penia, der personifizierten Armut, und Poros, dem Idealtyp des geschäftlich umtriebigen Erfolgs, dem, selbst reich an Geschäftsideen, der Reichtum allerorten zufällt. Einen anderen Reichtum freilich lässt Sokrates den „wahren“ Eros erstreben: er sucht den Reichtum der Sophia, von Weisheit und Erkenntnis. Aristoteles verschafft der Bewschwörung der himmelstürmenden Macht der Liebe im platonischen Symposion wieder rechte Bodenhaftung, freilich auch indem er weitere Differenzierungen vornimmt, die er in immerhin zwei von insgesamt zehn Büchern seiner Ethik behandelt. Ist nach Aristoteles Philia, liebende Freundschaft, nur zwischen Gleichen und keineswegs mit den Göttern denkbar, sieht die christliche Agape gerade im liebenden Bezug zwischen Mensch und Gott den Wesensgrund der Liebe. Wie dem auch sei, das Christentum bringt neben Philia und Eros eine „dritte“ Liebe ins Spiel. Wir könnten die Geschichte mit Augustinus, Bernhard von Clairvaux und Petrus Abelaerdus fortsetzen und kämen auf weitere Differenzierungen – in der phänomenalen Beschreibung wie im begrifflichen Apparat.

    It’s easy

    Unbeeindruckt von all dem scheint Thomas die Sache in vier Artikeln einfach und schnell in den Griff bekommen zu wollen. Natürlich weiß er, dass christliche Philosophie und Theologie gerade bei der Liebe begriffliche Klarheit braucht. Blättern wir in der Summa ein wenig vor, dann sehen wir, dass Thomas der Liebe im zweiten Teil der Summa, genauer der Secunda Secundae, 34 Quaestiones widmet. Erst in der Secunda Secundae (ST II-II) kann er die Liebe verhandeln, weil er dafür die Ergebnisse der Prima Secundae (ST I-II) braucht, des ersten Teils vom zweiten Teil der Summa, dem Teil der Summa, der „in 114 Quaestionen den Menschen in seiner praktisch-ethischen Dimension“ darstellt und eine „Affektenlehre und Handlungstheorie“ entwickelt. Schon hier widmet er, wie wir noch sehen werden, drei folgenreiche Quaestiones der Liebe:

    • ST I-II, q 26: Die Leidenschaften der Seele und im besonderen und zunächst die Liebe (De passionibus animae in speciali, et primo, de amore)
    • ST I-II, q 27: Die Ursache der Liebe (De causa amoris)
    • ST I-II, q 28: Die Wirkungen der Liebe (De efffectibus amoris)

    All das ist für die „Bestimmung“ der Liebe nötig. Und all das muss er auch bei der Frage voraussetzen, ob und wie Gott Liebe zugesprochen werden kann. Wie eine Management-Summary liest sich denn auch sein Argument hier in ST I, q 20. Die „Liebe ist die erste Regung des Willens und jeglicher Strebekraft.“ (Primus enim motus voluntatis, et cujusliebet appetitivae virtutis, est amor)(ST I, q 20, art 1 c). Der Wille ist eine Form des Strebens, die immer liebend auf das Gute ausgerichtet ist. „Folglich muss in jedem Wesen, das mit Willen oder Strebevermögen ausgestattet ist, auch Liebe sein.“ (Unde in quocumque est voluntas vel appetitus, oportet ess amorem)(ST I, q 20, art 20 c) Ach so, ach ja. Stimmt. Gott liebt. Sein Wille ist die Ursache der Dinge und er bestimmt ihre Vollkommenheit und damit ihr Gutsein. Jemanden (um seiner selbst willen) etwas Gutes wollen, das nennen wir lieben: „Da nun Lieben nichts anderes ist als einem anderen etwas Gutes wollen…“ (Unde amare nil aliud si quam velle bonum alicui)(ST I, q 20, art 2)…liebt Gott.

    „Freilich nicht in der Weise wie wir.“ (non tamen eo modo sicut nos)(ST I, q 20) Himmel und Erde unterscheidet sich dann doch ein bisschen! Liebe gilt uns als Leidenschaft. Sie ist – das werden wir noch ausführlich erläutert bekommen – „rezeptiv“ oder „leidend“, sie „springt“ auf die Wahrnehmung des Guten „an“ und bestimmt so – bei vernünftigen Wesen – den Willen. Für unseren Willen ist entscheidend, dass er das Gute als sein vorgegebenes Ziel erkennt und es als das erkennt, was die eigene Natur vollendet. Das Gute ist nicht das Produkt des Willens. Das Gute ist uns vorgegeben und unsere Natur gemäß sind wir liebend darauf ausgerichtet.

    Streben, Willen, Leidenschaft und Liebe… alles das wird uns noch en detail beschäftigen. Thomas kann für sich beanspruchen, dass er das Verständnis von menschlichem Handeln und Leiden geschärft und es zu beeindruckender Klarheit gebracht hat. Aus dem Blickwinkel der Quaestio 20 des ersten Teils der Summa muss das freilich alles noch geschehen. Die Frage nach der Liebe Gottes wird also nicht auf der sicheren Grundlage einer Handlungstheorie und Affektenlehre entschieden. Ausgangspunkt ist vielmehr das „vortheoretische“ Verständnis, das Thomas bei Bedarf mehr oder weniger akzentuiert. Unbelastet durch die scharfsinnigen Differenzierungen der Tradition und ohne die begrifflichen Klärungen vorauszusetzen, die er rund 100 Quaestiones später für notwendig hält, reduziert er die Komplexität in Liebesfragen auf das für die aktuelle Frage unbedingt notwendige. Unterscheidungen werden nur berücksichtigt, wo er sie für die Gotteslehre wirklich braucht. Dabei operiert er geschickt über die angeführten Einwände. Sie dienen nicht wirklich um ernsthafte Zweifel vorzubringen und sich mit Gegenpositionen wohlwollend kritisch auseinander zu setzen. Sie werden vielmehr konsequent dazu genutzt, by the way benötigte Wesensmerkmale der Liebe einzubringen, die er für die Zuschreibung der Liebe zu Gott braucht. So gewinnt er wie gesehen in eleganter Umkehrung des Arguments, dass wir die Liebe gemeinhin als eine Leidenschaft verstehen, ihre grundlegende Funktion für den Willen.

    Tatsächlich ist die Frage für den Glauben ja nicht wirklich fraglich. Nur die Stimmigkeit von dem, was wir von Gott und der Liebe denken ist sicherzustellen. Ausgangspunkt ist die „gute Meinung“ des common sense, also unser vortheoretisches Alltagsverständnis, das wir mitbringen, wenn wir von Gott und der Welt oder eben von der Liebe Gottes reden. So war Thomas z.B. auch beim Willen Gottes, seinem Wissen oder seinem Leben vorgegangen – und konnte gar nicht anders. Auch hier liegen die theoretischen Grundlagen tiefer in der Summa verborgen.

    CDH hatte Thomas bei seiner schnellen und zügigen Behandlung der Zeit in Quaestio 10 verteidigt. Nicht um kluge Überlegungen zum Wesen der Zeit sei es zu tun, sondern um ein überzeugendes Verständnis der Ewigkeit Gottes. Würden wir das Wesen der Zeit „an sich“ verhandeln wollen, dann würden wir die leitende Fragestellung und uns ins Bodenlose verlieren. Thomas „versteht sich“ auf die Frage und spricht zur Sache – nicht an sich! Im übrigen sei auch die phänomenologisch reichhaltigere Diskussion bei Augustinus nicht wegen ihrer analytischen Differenziertheit, sondern wegen der synthetischen Kraft zu loben, eine (echte) Frage zu beantworten. Anders als Thomas geht es Augustinus nicht um die (selbstverständliche) Ewigkeit Gottes, sondern um die Möglichkeit menschlicher Selbstverständigung, die immer Gefahr läuft, sich in (konstruktiver) „Idiotie“ zu verlieren und der der eigene Bewusstseinsstrom keinen Halt zu geben scheint. Alles nur Kopfgeburten und sonst wirklich nichts – außer Erinnern?! Keine kleine Frage und eines Augustinus wahrlich würdig. Aber nichts, um das wir uns bei der Frage nach der Ewigkeit Gottes sorgen müssten.

    There’s nothing you can know that isn’t known

    An dem Vorgehen von Thomas ist also nichts geheimnisvolles oder gar fehlerhaftes. Er folgt Aristoteles, der zurecht zwischen einem an sich, der Sache oder der Natur nach Bekannte(re)n und einem für uns Bekannte(re)n unterscheidet (Phy 184a16ff): Prinzipien sind, weil sie den sachlichen Grund für etwas legen, das an sich „erste Wissen“ – wie es der „Name“ schon sagt. Um sie zu finden, müssen wir auf dem Weg zu ihnen freilich mit etwas anderem beginnen, unserem „Vorwissen“, das wir immer schon mitbringen, um eine Frage überhaupt stellen zu können. Aristoteles macht nur explizit, was in den platonischen Dialog lebendig vorgeführt wird und jeder Forschungs- und Argumentationspraxis eigen ist.

    Die Ordnung der Summa folgt freilich nicht diesem Weg vom „für uns“ zu dem „an sich“ Bekannten, vom selbstverständlichen Umgang mit der Welt zu der ausdrücklich gemachten und im logon didonai gehärteten Selbstverständigung. Unser Erkenntnisweg – exemplarisch bei den Argumenten fürs Dasein Gottes – geht von unserer Welt- und Lebenserfahrung zu Gott. Erfolgreich ist dieser Weg freilich nur, wenn er nachzeichnet, was das Erkannte „an sich“ und in umgekehrter Richtung begründet. Wir können Gott – als Prinzip – erkennen, weil er Prinzip ist und diese Erkenntnis „begründet“. Wir hatten dazu beim Wissen Gottes (ST I, q 14) viel nachzudenken. Wäre es dann nicht naheliegend – und sachlich sogar geboten – den Aufbau der Summa umzustellen und in ihr den Weg der Erkenntnis auch argumentativ nachzuzeichnen? Wie können wir Gott etwas – und sei es nur analog – zuschreiben, von dem wir selber nicht wissen, was es eigentlich ist?!

    Eine Sacra Doctrina, die mit dem Menschen begönne, wäre zumindest eine mit langem Anlauf. Der Mensch wird der Sacra Doctrina freilich (nur) als Bild Gottes zum Thema. Im Prolog zum Zweiten Teil der Summa skizziert Thomas das Vorgehen in meisterhafter Kürze: Nachdem im ersten Teil der Summa von Gott als dem „Vorbild“ die Rede war, ist nun vom Menschen zu sprechen und zwar in der Ähnlichkeit des Geschöpfs zu seinem Schöpfer, in freier Entscheidung Ursprung seiner Werke zu sein (suorum operum principium…et suorum operum potestas) (ST I-II, Prolog). Seine Freiheit ist geschaffen und begrenzt durch seine ihm von Gott bestimmte Natur. Und so schafft sich der Mensch nicht Gott (in einer feuerbachschen Verkehrung) und auch nicht seine eigene Vollkommenheit. Das Gute ist nicht auf Grund seines autonomen Willens – wie das die Moderne gerne sähe. Vielmehr will er das Gute, das ihm gegeben wird, auf Grund seiner ihm von Gott bestimmten Natur. In der folgenden Quaestio zur Gerechtigkeit, bei der wir auf das gleiche Konstruktionsproblem stossen, bringt es Thomas auf den Punkt, so als hätte er Kants Autonomieargument bereits gekannt: „So handeln auch wir in dem, was wir dem Gesetz entsprechend vollbringen, gerecht. Wir freilich nach dem Gesetz eines Höheren; Gott aber ist sich selbst Gesetz.“ (sicut nos quod secundem llegem facimus, juste facimus. Sed nos quidem secundum legem alicuius superioris: Deus autem sibi ipsi est lex) (ST I, q 21, art 1, ad 2) Gott – nicht wir oder unsere Vernunft.

    Für Thomas steht deshalb außer Frage, dass wir unseren Weg der Erkenntnis – und die Sacra Doctrina sowieso – mit Gott beginnen müssen. Unsere Erkenntnis von ihm mag begrenzt sein und ist nur per analogia möglich. Von uns und unserer Lebenswelt schließen wir auf Gott, indem wir die Vollkommenheiten steigern und jede Unvollkommenheit entfernen, die unserem Erkennen eigen ist (per modum exellentiae et remotionis)(ST I, q 13, 1). Nicht nur ist das „an sich“ vom „für uns“ Ersten zu unterscheiden. Wir können das Unsrige nur analog auf Gott beziehen. Von uns aus sprechen wir ihm Wissen, Willen und Liebe zu, ohne freilich das Unsrige bereits recht verstanden zu haben. Was genau es mit der Liebe auf sich hat, das vermögen wir noch nicht zu sagen. Wie immer wir lieben, wir lieben anders als Gott. Und für die Liebe Gottes ist nur entscheidend, dass er der Grund der Liebe ist und wir ihm in unserer folgen. Er schafft aus Liebe die Dinge, die wir dann liebend bejahen und deren Gut wir als das unsere wollen. Unsere Liebe zum Guten entspringt der Liebe Gottes. Auch wenn wir sonst noch nichts Rechtes und Verläßliches über uns wüssten – der Grund ist gelegt. Dafür kann man auch ein Konstruktionsproblem in Kauf nehmen.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium