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ST I, Quaestio 3 (HL)

    Bottom up – mit der geliebten Magd

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem III

    De Dei simplicitate. – Über die Einfachheit Gottes.
    Editio Leonina (Q. 3-14)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Wir wissen nun, was eigentlich niemanden interessiert: Gott existiert. Jetzt möchten wir wenigstens auch noch wissen, wie er aussieht, was er so macht und wie er so ist. Ist er blond und blauäugig oder hat er einen schwarzen Mullahbart oder doch einen Irokesen-Schnitt? Ist er überhaupt ein Er oder nicht vielmehr eine Sie? Und hat er dann auch seine Tage? Das klingt alles ziemlich aburd. Thomas begründet in Quaestio 3, warum das so ist und wie solche Paradoxien produktiv gemacht werden können. „Die Einfachheit Gottes“, das klingt wenig reißerisch. Und doch, ich darf es versprechen, ist es ein richtiges Pfund, das uns da Thomas auf die Gedankenwaage legt.

    Thomas erläutert zu Beginn der Quaestio sein Vorgehen: „Ist das Dasein eines Dinges einmal erwiesen, dann können wir weiter fragen nach seiner Daseinsweise, um schließlich zu seinem Wesen vorzudringen.“ (Cognito de aliquo an sit, inquirendum restat quomodo sit, ut sciatur de eo quid sit.“)

    Klingt plausibel und ist es wieder nicht! „Das Dasein eines Dinges“, hmm. Gut, das mag allzu flüssig übersetzt sein. Die Rede ist von irgendetwas (aliquis), von dem wir noch nicht wissen, wie es ist, geschweige denn was es ist. Eben irgendwas! Ist Gott irgendwas? Das erzeugt eine doppelte Unruhe. Es wurde also nicht Gott bewiesen, sondern irgendwas!?! Und ist Gott überhaupt ein etwas, ein „Ding“, neben anderen Dingen – ein ganz besonderes Ding vielleicht, aber eben ein Ding? Ja, nein! Das kann so nicht stehen bleiben.

    Im ersten Artikel stellt uns Thomas die Frage, ob wir Gott als etwas Körperliches verstehen wollen (utrum Deus sit corpus). Wie antworten wir? Schließen wir einen Moment die Augen und blättern wir nicht auf die Lösungsseite vor. Was antworten wir?

    Blicken wir in die Schrift, dann erscheint uns Gott hier durchaus körperlich präsent: „er“ sitzt, hat Auge und Arm und ist etwas, von dem wir uns hin und abwenden können. Wir sind leibliche „Körperwesen“ und nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen. Also liegt es doch nahe, auch ihn nicht „körperlos“ und unkörperlich vorzustellen. Was soll er auch sonst sein? Thomas hält im SED CONTRA mit Johannes dagegen: „Gott ist Geist“ (spiritus est Deus). Und mit großer Entschiedenheit sagt Thomas denn auch, dass Gott definitiv kein Körper ist („wir müssen unbedingt sagen…“ – dicendum absolute Deum non esse corpus).

    Alles Körperliche ist begrenzt und veränderlich. Das passt nicht zu dem, als was er sich uns in den fünf Wegen der zweiten Quaestio erwiesen hat. Veränderung verweist auf etwas anderes durch dessen Wirklichkeit sie realisiert wird. Der erste Beweger ist Gott und kann selbst nicht durch anderes bewegt sein. Alles was körperlich ist, Ausgedehntes in Raum und Zeit, ist erschaffen durch Gott. Er gehört selbst nicht zur Schöpfung, ist nicht von dieser Welt. Wir kommen darauf zurück.

    Wenn die Heilige Schrift versucht, uns „das Geistige und Göttliche“ mit Hilfe von Gleichnissen nahezubringen (sub similitudinibus corporalium), dann tut sie dies, um sich uns verständlich zu machen. Zur Natur des Menschen gehört es, dass er durch Sinnliches zu Geistigem geführt wird. Er muss sich in unserer Sprache offenbaren, so ungenügend sie auch sei. Göttlicher Inhalt gewinnt menschliche Form. Gott offenbart sich uns so, dass wir es verstehen können. Augen können nicht hören – weder menschlichen Krach noch himmlische Musik. Die Frequenz der Mitteilung und ihre Intensität muss unseren Ohren zugänglich sein und zwar so, dass wir in dem was wir hören etwas „anderes“ hören. Dabei kommen bildhafte Reden, Vergleiche und Metaphern, Gleichnisse und Geschichten zum Tragen, die uns herausfordern, weil sie uns nicht immer klar und widerspruchslos erscheinen. Hinkende Vergleiche sind dabei freilich durchaus dienlich. Ist der Abstand zwischem dem gewählten Bild und dem damit Gemeinten besonders groß, wird ja ganz augenscheinlich, dass keine Identität zwischen Bild und Gegenstand gemeint ist, sondern ein Verstehen angestoßen werden soll, das über das Bild hinausführt. Natürlich „ist“ der Samstag kein Selbstmord und genau deshalb erkennen wir, was das Selbstzerstörerische an ihm ausmacht.

    Wir haben ja (zunächst) tatsächlich keinen anderen Zugang zu dem offenbarten Gott als durchs Lesen der Schrift und unser(!) rechtes Verständnis von ihr. Wir können z.B. nicht sagen, „Oh, da hat er sich mißverständlich ausgedrückt“, so als läge ein Fehler vor, der sich bei der Übersetzung der göttlichen Rede in die menschliche Sprache ergeben habe. „Ich weiß, was er meint, ich kenn‘ ihn doch…“ Wir sprechen nicht seine Sprache, nur unsere. Wir haben keinen anderen Zugang zu ihm als durch uns. Wenn uns Bibelstellen in direkter Lesart widersprüchlich sind, dann müssen wir sie so zu verstehen suchen, dass sich für uns ein rechtes Verständnis des Ganzen einstellt. Das ist bei der Lektüre Homers und Platons, bei Hegel und Goethe nicht viel anders. Wenn wir glauben ein besseres Verständnis der platonischen Dialoge zu haben als der akademische Nachbar, dann nicht, weil wir in Platons Kopf hätten schauen können. Und selbst wenn wir dies könnten, wir würden ihn in Gedanken sprechen hören, hätten das, was er meint, aber nicht in vorsprachlicher Form. Wir hätten allenfalls einen weiteren Text, der dann die anderen Texte vielleicht in anderem Lichte erscheinen lassen könnte, selbst aber nur in ihrem Lichte zu diesem Erscheinen käme.

    Wir müssen also trotz oder gerade wegen der sinnlichen Bilder der Heiligen Texte daran festhalten, dass Gott nicht irgendein Körper ist. Wenn wir von diesem lesenden Zugang ausgehen, dann gibt es noch eine andere Bedeutung von aliquis, die gar nichts Körperliches meint. Wir reden über etwas, indem wir von (irgend)etwas (irgend)etwas anderes aussagen. So hieß es in der ersten Quaestio, dass Gott der „Gegenstand“ der Sacra Doctrina sei.
    „Gegenstand einer Wissenschaft ist dasjenige, wovon in der betreffenden Wissenschaft die Rede ist.“ (illud es subjectum scientiae, de quo est sermo in scientia)
    In diesem Sinne versuchen wir die Schriften zu verstehen, was sie uns über das Wesen Gottes zu sagen vermögen und gelangen wieder in Schwierigkeiten. Wenn wir in diesem (nicht körperlichen) Sinne von etwas sagen wollen, was „es“ ist, dann bestimmen wir etwas als etwas. Dies ist dies und nicht das. Dafür gibt es ein sprachliches Instrumentarium, das in der Tradition der Philosophie ausführlich untersucht wurde: Wesen/Akzidenz, Gattung/Art, Form/Materie. Von all dem zeigt Thomas, dass wir es für Aussagen über Gott und seine Wesensbestimmung nicht auf direktem Wege gebrauchen können. Wir brauchen für unser Verstehen der Welt die Unterscheidung von Wesen und Akzidenz. Wenn wir das zu bestimmen suchen, was das Wesen von etwas ausmacht (z.B. des Menschen), dann bestimmen wir den Gattungsbegriff (Lebewesen) artspezifisch (vernünftig): Menschen sind Lebewesen, die sprechen und sich sprechend über sich verständigen können. Bestimmen in dieser Weise heißt den (wesentlichen) Unterschied machen: determinatio est negatio. In dieser Weise können wir das Wesen Gottes nicht bestimmen. Der Gattungsbegriff ist so untauglich wie der artspezifische Unterschied. Es müsste einen „höheren“ Gattungsbegriff geben, der dann artspezifisch determiniert/negiert werden müsste. Das ist nicht möglich. Wesen und Akzidenz sind nur effektiv operabel, wenn wir Gott voraussetzen. Aber Gott selbst, vermögen wir nicht in dieser Unterscheidung zu verstehen. Gott hat keine Akzidentien. Menschen können blond oder rothaarig sein, das macht für ihr Wesen keinen Unterschied. Gott dagegen kann nicht „zufällig“ blond sein, so dass es seinem Wesen nicht zugehörte, blond zu sein, wenn er es denn ist!

    Bestimmen, was das Wesen von etwas ist, setzt einen Unterschied voraus, der dann geschlossen wird. Das Wesen ist etwas Zusammengesetztes. Alles Zusammengesetzte ist aber „später“ als seine Teile und abhängig von ihnen. Gott können wir nicht als etwas Zusammmengesetztes denken. Wir müssten es als das radikal Einfache denken, wenn wir das denn könnten. Denken können wir aber nur im Zusammensetzen und Bestimmen. Das Denken reicht für die Erkenntnis des Wesens Gottes nicht aus. Wir haben „etwas“, das wir ergründen und dessen „Besonderheit“ wir umkreisend verstehen wollen.

    Etwas ähnliches kennen wir bei der Begegnung mit Kunstwerken und allemal der Musik. Wir suchen zu verstehen, was uns in „Maroon II“ von Rothko entgegensieht, ohne es auf den Begriff bringen zu können. Wir suchen zu begreifen, was in uns bei der „Pathetique“ schwingt, ohne es sprachlich fassen zu können. Wir umkreisen den ästhetischen Eindruck und verstärken ihn, indem wir das Unausdrückliche auszudrücken versuchen. Wer hier etwas verstehen will, der lasse alle Hoffnung fahren, auf direktem Wege zum Ziel zu gelangen. Thomas zeigt in der so unspannend klingenden Frage nach der Einfachheit Gottes, dass wir bei dem, was wir ergründen wollen, von der Sprache verlassen sind, ohne auf sie verzichten zu können. Bei Gott können wir „nicht wissen, was er ist, sondern höchstens, was er nicht ist“. Zu dieser höchsten uns möglichen Erkenntnis vom Wesen Gottes gelangen wir auf dem Weg der Verneinung (via remotionis, CG i, 14), „indem wir alles von ihm ausschließen, was mit unserer Vorstellung von Gott nicht vereinbar ist“. Wenn wir unsere Welt recht verstehen wollen, brauchen wir Gott. Gott dagegen verstehen wir recht nur, aus seinen Wirkungen, die uns zu ihm führen. Wir verstehen ihn aus dem rechten Verständnis dessen, was uns von ihm trennt.

    Eine negative Theologie hat man das genannt, eine die zur Philosophie führt! Und dies auf zwei Wegen:
    1. „Gott ist Geist“ hat Thomas mit Johannes kurz und entschieden dem Mißverständnis von der Körperlichkeit Gottes entgegen gehalten. Seine Erkenntnis wäre dann Einsicht in das, was es heißt, Geist zu sein und zu verstehen. Auch diese Einsicht hat die Form der Bestimmung: das Wesen des Geistes läßt sich nur bestimmen, indem es von anderem getrennt wird. Sein Bestimmen ist sein Tun. Das Wesen des Geistes bestimmt nur der Geist. Das Wesen des Geistes ist selbst geistig und die Einsicht in das, was er ist.
    2. Die Existenz Gottes wurde aus seinen Wirkungen begründet. Was wir von ihm wissen, beruht auf seinem Wirken. Wir haben keinen „direkten“ Zugang zu ihm, sondern erschließen ihn aus dem, was er für uns ist. Wir gehen neudeutsch gesprochen „bottom-up“ vor. Top-down steht uns nicht zur Verfügung. Den Schöpfer aus dem Erschaffenen zu erschließen, birgt zweierlei Gefahren: der Schöpfer erschöpft sich nicht im Erschaffenen; wir können nichts direkt von ihm sagen, sondern nur, dass er sich uns im Erschaffenen so und so zeigt. Und wir müssen das Erschaffene recht verstehen, denn von ihm aus schließen wir auf den Schöpfer! Zu diesem Zweck hat Thomas schon in der ersten Quaestio darauf hingewiesen, dass „unsere Wissenschaft [die Sacra Doctrina] von den philosophischen Wissenschaften etwas entlehnen“ kann und zwar „zur besseren Erklärung der in der Hl. Lehre behandelten Gegenstände“. Sie bedient sich ihrer, „wie man sich von Mägden bedienen läßt“ (ST I, q 1, art 5, ad 2), die sich umwillen des Herrn, die Hände schmutzig machen und für das große Fest alles zubereiten. Wer rechte Theologie treiben will, der muss sich nicht nur mit der Magd einlassen, er muss sie wirklich lieben.

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    © 2014 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium