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ST I, Quaestio 5 (HL)

    Das Gute ist wirklich gut

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem V

    De bono in communi. –  Über das Gute im Allgemeinen.
    Editio Leonina (Q. 3-14)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Nach der Vollkommenheit Gottes nun also zum „Guten im Allgemeinen“ und damit nicht genug auch noch zur Frage, wie sich das Gute zu dem verhält, was ist, zum Seienden! Ach, wär’s nur die Frage nach dem Guten im Allgemeinen alleine. Das wär vergleichsweise einfach. Das Gute ist ganz allgemein gesprochen der Gegenstand des Verlangens. Thomas erklärt in enger Anlehnung an Aristoteles „gut ist das, wonach alle verlangen“ (bonum est quod omnia appetunt, art 4, c). Es ist etwas, ein Seiendes, nach dem wir streben. Erlangen wir es tatsächlich, dann kommt das Streben erfüllt zur Ruhe.

    Was es mit diesem Etwas auf sich hat, sehen wir vielleicht am Besten, wenn sich unser Streben nicht erfüllt. Bekommen wir nicht, was wir wollen, dann stellt sich Enttäuschung ein. Für diese Enttäuschung gibt es (mindestens) drei Formen.

    (1) Wir bekommen nicht das, was wir wollen, z.B. weil wir uns den Ferrari einfach nicht leisten können und niemand absehbar ist, der uns Einen vererben oder schenken könnte.

    Oder (2) wir bekommen zwar irgendetwas, aber nicht das, was wir wollen. Statt eines roten, unverbeulten Ferraris, steht ein lila überspritztes, nicht mehr fahrtüchtiges Etwas vor der Tür, das nur eine vage Ähnlichkeit mit unserem Wunschauto hat.

    Schließlich gibt es noch eine dritte Form der Enttäuschung (3): Wir bekommen zwar endlich den langersehnten Ferrari, der freilich nicht hält, was wir uns von ihm versprochen haben. Ein noch so perfekter Ferrari reicht tatsächlich für die Perfektion unseres Lebens nicht hin. Unser Verlangen geht auf etwas, das wir fälschlich mit dem Ferrari gleichgesetzt haben. Jedes Ziel wird als etwas Gutes erstrebt. In diesem „etwas als etwas“ steckt freilich eine mögliche Fehlerquelle und erfordert die Gabe der Abwägung und des klugen Urteils. Das, was wir für das Gute halten, muss freilich nicht immer das Gute und nicht einmal gut für uns sein. Natürlich wissen wir, dass das Gute und das, was wir – und insbesondere unsere Nachbarn – dafür halten, nicht immer übereinstimmt.

    Wir werden uns damit (3) in zwei Jahren beschäftigen, wenn wir zum zweiten Teil der Summa vorgedrungen sind. Dort geht es um den Menschen und sein Tun. Hier und heute (und noch ein paar Wochen lang) geht es um „Gottes Dasein und Wesen“. Und dabei um die Frage des „Guten im Allgemeinen“ und damit um den Gegenstand des Verlangens im Allgemeinen.

    Das Verlangen richtet sich auf etwas, auf ein Seiendes, das realisiert und wirklich werden soll. Das Gute ist als das Ende einer Bewegung etwas Verwirklichtes, etwas Seiendes. Das Verlangen kommt damit zur Ruhe. Der enttäuschende Ausgang (2) gibt diese Erfüllung nicht, weil das „Wirkliche“ nicht der Natur des erstrebten Etwas entspricht. Wenn wir (wirklich) einen Ferrari erstreben, dann wird uns ein Modellnachbau nicht zufrieden stellen – auch wenn die Kollegen, die uns damit „überraschen“ wollen, an diesem Scherz ihre Freude haben. Ihr Spaß zeigt nur die Unwirklichkeit der Erfüllung – und für Thomas‘ Anliegen ist dieser Scherz ein starkes Indiz. Wenn die Familie schließlich zusammenlegt, um das Unmögliche möglich zu machen und uns aus Schrottteilen in liebevoller Kleinarbeit einen Ferrari aus eigener Produktion zum Geschenk macht, dann kommt alles darauf an, wie sehr dieses Etwas tatsächlich ein Ferrari ist und das heißt wohl, so aussieht, sich so anfühlt und fährt wie eben ein Ferrari. Die Natur des Etwas, das wir verlangen, gibt das Maß der Erfüllung.

    Das Gute ist tatsächlich immer ein Seiendes und zwar nicht irgendeines, sondern ein solches, das in seinem Sein seinem Wesen entspricht. Aus Quaestio 4 haben wir das als „das Wesen der Vollkommenheit“ in Erinnerung. Wirkliches Sein ist das Sein eines Seienden, das sich verwirklicht bzw. vollendet hat. Anderes Seiendes ist in Bewegung und das heißt von „wirklicher“ Potentialität zu „tatsächlicher Aktualisierung“. Es ist als dieses in Bewegung befindliche Seiende nicht vollkommen „seiend“ und in dieser Hinsicht des Mangels nicht gut, nämlich nicht das, was durch die Natur des Etwas als sein Ende bestimmt ist. Die Enttäuschung des unerfüllten Strebens liegt nicht daran, dass wir nicht bekommen, was wir wollen. Das Seiende, das wir bekommen, ist vielmehr deshalb nicht gut, weil es tatsächlich seiner Natur nicht gerecht wird. Das Wesen des Seienden ist das Maß des Guten.

    Das Gute und das Seiende unterscheiden sich „nur begrifflich“ (tantum secundum rationem), sind aber „wirklich dasselbe“ (idem secundum rem). Das Gute bringt begrifflich das Verlangen hinzu, das dem Seienden per se nicht zukommt. Das Seiende ist dabei begrifflich vorrangig. Erstrebt werden kann nur etwas, das vorher im Verstande erkannt wurde – und dessen Wesen sich bestimmen lässt. Aussagen über das, was etwas ist, geben damit die Grundlage für alles Streben und Wollen. Für das Handeln tritt das Gute in die Rolle des Zwecks, der der Verwirklichung zeitlich und ursächlich vorausgeht. Weil wir das und das Wollen, wählen wir folgende Mittel und vollziehen folgende Handlungen, deren Ergebnis dann der realisierte Zweck als das „verwirklichte“ Gute ist.

    Wenn das Seiende und das Gute „sachlich eins“ sind (idem secundum rem) – die englische Übersetzung sagt: „really the same“ – dann wäre alles Seiende gut!? Wäre das nicht gefährlicher Unsinn? Mehr noch: „Wehe denen, die das Böse gut und das Gute bös nennen!“ (Jes. 5, 20) Unter Seiendem ist doch wohl vieles, was nicht ganz so toll, um nicht zu sagen gar nicht gut und sogar richtig Scheiße läuft. Also muss man sich vor der Gleichsetzung von Seiendem mit Gutem hüten. Diesen Einwand bringt Thomas natürlich ebenfalls vor. Gekontert wird dieser Einwand zunächst durch einen Verweis auf die Schrift: Er zitiert 1. Tim. 4, 4, wo es ausdrücklich heißt, dass „alles, was Gott geschaffen hat“ gut ist. Sicherlich hätte Thomas dieses Argument der Kreatürlichkeit allen Seins noch mit vielen Stellen belegen können.

    Thomas geht freilich anders vor. Die Pointe dieses Verweises auf 1. Tim. 4, 4 ist der Kontext der Stelle. Es geht dort um falsche Haltungen und „betrügerische Geister“, die z.B. den Genuß bestimmter Speisen verbieten, die Gott ausdrücklich „dazu geschaffen hat, dass die, die zum Glauben und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt sind, sie mit Danksagung zu sich nehmen.“ Die rechte Einstellung und das rechte Verständnis ist entscheidend, um das Gute der Schöpfung Gottes zu erkennen. Das gilt auch auch für die paradoxe, „sachliche“ Gleichsetzung von „seiend“ und „gut“:

    „Alles Seiende, sofern es Seiendes ist, ist gut. Denn alles Seiende ist als Seiendes Wirklichkeit und ist deshalb irgendwie vollkommen. Denn alle Wirklichkeit ist irgendwie auch Vollkommenheit. Das Vollkommene nun hat den Charakter des begehrenswerten, also des Guten. Daraus ergibt sich: Alles Seiende als Seiendes ist gut.“
    (omne ens, inquantum est ens, est bonum. Omne enim ens, inquantum est ens, est in actu, et quodammodo perfectum: quia omnis actus perfectio quaedam est. Perfectum autem habet rationem appetibilis et boni… Unde sequitur omne ens, inquantum hujusmodi, bonum esse.)

    Thomas begründet philosophisch. Sein Argument ist systematisch: wer Seiendes als Seiendes (ens, inquantum est ens) richtig versteht, der sieht, dass es „irgendwie vollkommen“ (quodammodo perfectum) und deshalb gut ist. Seiend ist etwas als „Verwirklichtes“. Wenn wir Seiendes als Seiendes betrachten, dann sehen wir ab von dem was einen Menschen zum Menschen, einen Blödmann zu einem Blödmann und einen Ferrari zu einem Ferrari macht. Wir sehen von seiner „Vollkommenheit“ bzw. seinem Mangel als Mensch, als Blödmann oder als Ferrari ab. Das mangelhafte Etwas ist ein Seiendes, eine „Verwirklichung“, freilich eine Unvollkommene. Das Seiende wird nicht „schlecht“ genannt sofern es seiend ist (nullum ens dicitur malum inquantum est ens), sondern weil ihm etwas zur Vollkommenheit, zu seinem vollkommenen Sein, mangelt. Das Auge wird schlecht genannt, nein ist schlecht, „sofern ihm die nötige Sehschärfe abgeht“ – und der Mensch, weil ihm die Tugend fehlt.

    Das Schlechte ist Privation, nicht realisierte Natur. Das Gute verwirklichte Natur. Wir erstreben etwas, das erstrebenswert ist. Wir erkennen die Natur des erstrebten Seienden und haben darin das Maß des Guten. Gegen den modernen Solipsismus des Willens und seinem verzweifelten Versuch, die Außenwand der Hirnschale zu durchbrechen, ohne das Gehirn zu verlassen, heißt es: Agere sequitur esse – auch wenn sich Kant im Grab herumdreht!

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    © 2014 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium