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ST I, Quaestio 14 (HL)

    Muss Er denn alles wissen?

    Heinrich Leitner (HL) ad primae partis quaestionem XIV

    De scientia Dei. – Über das Wissen Gottes.
    Editio Leonina (Q. 3-14)
    Lateinisch – Englisch
    Lateinisch – Deutsch

    Der eigentlich Name Gottes ist „der Seiende“ – so konnten wir in Bestätigung von Ex. 3 in ST I, q 13, 11 lesen. „Der Seiende“ wird uns nun in Quaestio 14 auch zu „dem Wissenden“: „In Gott ist Wissen auf vollkommenste Weise“ (in Deo perfectissime est scientia) (ST I, q 14, 1 c) und es gehört zu seinem Wesen (intelligere Dei est eius substantia) (ST I, q 14, 4 c) Die Vollkommenheit des Wissens kann uns bei ihm nicht überraschen. Überraschend mag sein, dass wir Gott überhaupt Wissen und Erkenntnis zuschreiben (können und dürfen). Wären wir da von alleine drauf gekommen? Irgendwie ja und irgendwie… müssen wir es uns erklären.

    Nun wissen wir auch, dass wir Gott Wissen nicht bedeutungsgleich (univoce) und allenfalls „analog“ zuschreiben dürfen. So wie Schöpfer und Schöpfung sich unterscheiden, so auch ihr Wissen. An seinem Wissen wird sich nichts Unvollkommenes finden. Unser Wissen ist zunächst ein Wissensanspruch, behauptetes Wissen: es kann so sein, wie wir sagen – oder eben auch nicht. Wie oft sind wir nicht schon bei Dingen, die uns völlig klar schienen, eines besseren belehrt worden. Unser Wissen steht neben Meinen und Vermuten, Irren und Berichtigen. Was wir wahr nehmen, muss es nicht immer sein. Ob das, was wir behaupten der Fall ist, das entscheiden nicht wir.

    Unsere Vorstellung ist etwas anderes als das, was wir vorstellen. Wir haben das Ding nicht selbst (im Auge oder im Gedanken), sondern einen Stellvertreter, eine Repräsentation. Wir wissen, dass der Repräsentant das eigentliche, substantielle Subjekt nur „repräsentiert“ – und zwar tatsächlich, nicht per Deklaration oder im lockeren 4-Jahres-Wähl-mich-Fake. Repräsentation ist hier wie dort die Ursache von Täuschung und von Falschheit. Etwas, von dem wir zunächst dachten, dass es ein Mensch sei, den wir nach dem rechten Weg fragen können, entpuppt sich im Näherkommen als Vogelscheuche. Unsere Vorstellung wurde der Wirklichkeit nicht gerecht und wird durch eine andere ersetzt. Mit dem Anspruch auf Wissen reklamieren wir freilich, dass das Vorgestellte der Wirklichkeit entspricht. Der Anspruch auf Wissen drückt sich in Sätzen aus wie z.B. „Ich behaupte, dass Thomas von Aquin der Autor der ‚Summa Contra Gentiles‘ ist“ oder „Ich behaupte, dass Martin Luther die Kampfschrift ‚Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern‘ geschrieben hat“. Der Wissensanspruch kann allgemein durch „ich behaupte, S ist P“ ausgedrückt werden. Der Anspruch ist berechtigt, wenn… ja wenn, S wirklich P ist, also der im Satz ausgedrückte Sachverhalt eine Tatsache ist. Sätze können nun aber nicht mit Sachen bzw. Tatsachen verglichen werden. Halten wir den Satz „Dies ist ein Apfel“ an den vor uns liegenden Gegenstand, dann vergleichen wir wahrlich „Äpfel mit Birnen“: Sätze haben mit Gegenständen nichts gemein und können mit ihnen nicht verglichen werden oder ihnen „entsprechen“. Gegenstände sprechen gar nicht und können zu unseren Ansprüchen auch nicht nicken. Die Vorstellung von einem Menschen am Rande des Felds wurde durch die Vorstellung der Vogelscheuche ersetzt, und dem „Guck da steht wer, den können wir fragen“ folgte ein „Ach nee, das ist ja eine Vogelscheuche. Hier ist wirklich niemand der uns weiterhelfen kann.“.

    Wir werden darauf in zwei Wochen zurückkommen, wenn es in Quaestio 16 über die Wahrheit geht. Hier nur soviel: Im Anspruch auf Wissen unterstellen wir, dass die für uns bestehende Differenz von Vorstellung und Sache aufgehoben werden kann. Das ist der Gedanke, der uns zum Wissen Gottes führt.

    Das Wissen Gottes ist anders – und muss es sein. Es erlaubt keinen Irrtum, weil es die Differenz zwischen der Vorstellung im Erkennenden und dem wirklichen Gegenstand nicht kennt. Der Anspruch auf Wissen ist bei ihm immer schon eingelöst. Das, was ein Ding zu dem macht, was es ist, ist sein Wesen; es ist die Form, die die Materie zu dem versammelt, was ist. Die Formen finden sich in Gottes einfacher Vollkommenheit versammelt und geben den Dingen ihr Sein. Gottes Wissen ist Ursache des Seins, nicht die rezeptive Nachbildung, nicht Repräsentation von selbständig Seiendem wie das beim menschlichen Erkennen der Fall ist. Wie der Künstler oder der Handwerker die Form dessen, was er hervorbringt, zunächst in seinem Verstand hat und sein Werk danach gestaltet, so – analog (!) – bringt Gott die Gegenstände nach den Wesensformen ins Sein. Die Formen entsprechen den Gegenständen, weil sie ihre Gestaltungsprinzipien sind. „Es ist offensichtlich, daß Gott durch seinen Verstand die Dinge verursacht; denn Sein und Erkennen sind bei ihm dasselbe. Also ist sein Wissen notwendig Ursache der Dinge… Deshalb pflegt Gottes Wissen, sofern es Ursache der Dinge ist, bestimmendes Wissen genannt zu werden. (manifestum est.. quod Deus per suum intellectum causat res, cum suum esse sit suum intelligere. Unde necesse est quod sua scientia sit causa rerum… Unde scientia Dei, secundum quod est causa rerum, consuevit nominari scientia approbationis)“ (ST I, q 14, 8 c)

    Und wieder könnte Thomas – wenn er es denn nötig hätte – die Heilige Schrift heranziehen. Die Schöpfung, das erzählen die ersten Sätze nachdrücklich, folgt nach dem göttlichen Wort des Geistes Gottes: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah also. Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der andere Tag.“ (Gen 1) S ist P, weil P dem S durch Gott zugesprochen wurde und wird. Während sein Wissen ursächlich und festlegend ist, ist unser Wissen abgeleitet und feststellend. Unsere Wissensansprüche sind genau dann berechtigt, wenn sie den Sätzen entsprechen, die Gott gesprochen hat, um die Dinge ins Sein zu holen.

    Vollkommenheit des Wissens

    Wissen ist selbst eine Vollkommenheit, die die Wissenden vor den Unwissenden auszeichnet. Der graduelle Vorsprung im Wissen ist das eine: „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Ätsch!“. Prinzipiell freilich unterscheiden wir uns von Steinen und Pflanzen durch das Vermögen, etwas wissen und erkennen zu können. Wesen, die erkennen sind anders, nämlich reicher, als Wesen, die nicht erkennen (können). Nicht-erkennende Wesen haben eine Form, durch die sie das sind, was sie sind. Die Form bestimmt ihr Wesen, ob sie davon nun wissen oder nicht. Erkennende Wesen sind nicht nur Wesen, sie erkennen das Wesen anderer Wesen. Sie wissen um die Wesensform anderer Dinge, die sie nicht selbst sind. Sie haben daran Anteil und zwar in einer wesentlichen Form: sie haben Anteil an dem, was die Dinge so sein lässt, wie sie sind. Thomas nennt „die Natur eines nichterkennenden Wesens mehr begrenzt und eingeengt“ (natura rei non cognoscentis est magis coarctata et limitata) ()ST I, q 14, 1 c). Offensichtlich (manifestum) sei dieses Eingeschnürtsein in die eigene Form im Unterschied zur „Natur der erkennenden Wesen“, die „eine größere Weite und Ausdehnung“ auszeichnet (natura autem rerum cognoscentium habet majorem amplitudinem et extensionem) ST I, q 14, 1 c) Mit Aristoteles beschwört Thomas, dass die Seele des Wissenden, der Geist, „gleichsam alles“ ist (Aristoteles, De Anima 8, 431b21)

    Gott ist als der Seiende der Wissende. Sein Sein ist Wissen und sein Wissen Grund des Seins. Sein ist Wissen! Wie er als der Grund des Seins in einem ausgezeichneten Sinn erkennbar ist (maxime cognoscibilis), so ist es das Sein im Nachvollzug seiner Gedanken. Wir wissen nicht alles. Aber alles, was ist, ist erkennbar, kann gewußt werden. Die Vernunft, mit der wir uns wissend erweitern, ist nichts „seinsfremdes“, nichts, das durch eine unaufhebbare Differenz von Geist und Materie charakterisiert wäre. Sein ist Verstandensein. Nur wer versteht, was ist, ergreift die Fülle, die das Leben bereithält.

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    © 2015 Heinrich Leitner

    Reditio ad initium